Prolog in den Schweizer Alpen
Im November stellte der Schauspieler und Comedian Mike Müller Robert Menasses «Hauptstadt» im SRF-Literaturclub vor, und zwar so sympathisch und überzeugend, dass
ich mir das Buch gleich zu Weihnachten wünschte. Einige Wochen später, als der Sturm «Burglind» über Europa hinwegfegte, las ich schliesslich das Buch, gemütlich ausgestreckt auf dem Sofa in der
Stube eines alten Chalets in Grächen VS.
Gleich vorweg: Robert Menasse ist kein notorischer EU-Skeptiker, sondern ein Vertreter eines nachnationalen Europas. Dies hindert ihn
aber nicht daran, einen melancholisch-satirischen Roman über die Brüsseler Verhältnisse zu schreiben. Zum Glück. Denn wir lernen in diesem Text mehrere spannende und vollkommen unterschiedliche
Persönlichkeiten kennen.
Das Beispiel Fenia Xenopoulu
David de Vriend, Martin Susman, Fenia Xenopoulu, Alois Erhart und Mateusz Oswiecki: So heissen die Protagonisten des Romans, deren Lebensgeschichten scheinbar zusammenhangslos und episodisch erzählt werden. Fenia Xenopoulu zum Beispiel ist Beamtin in der Generaldirektion für Kultur und liest nur Belletristik, wenn es der Karriere dient. Liebend gerne möchte sie in eine angesehenere Direktion wechseln, statt in der Kulturabteilung zu versauern. Fenia erhält nun den Auftrag, das Image der EU-Kommission (also der EU-Exekutive) aufzupeppen. Sie wittert die Chance, sich zu profilieren, und stürzt sich in das halsbrecherische «Big Jubilee Project»: Die letzten Holocaust-Überlebenden sollen an einer grossen Feierlichkeit auftreten, bei der es im Grunde aber nicht um das Gedenken an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs geht, sondern um simple PR. Die EU-Kommission möchte nämlich auf ihre Bürger menschlicher und emotionaler wirken. Die hanebücherne Idee geht schliesslich in einem Strudel teils absurder diplomatischer Protestnoten unter, bis es nur noch darum geht, einen Sündenbock zu finden.
Wie in diesem Beispiel wird die EU-Bürokratie in Manesses «Hauptstadt» nicht kafkaesk, sondern komödiantisch dargestellt. Dass die meisten Marotten und Machtspielchen auch andernorts verbreitet sind, sollte dabei nicht vergessen gehen. Und das sei noch angemerkt: Eine Chance bietet sich der ehrgeizigen Fenia Xenopoulu doch noch für den langersehnten Karriereaufstieg. Sie ändert ihre Identität, aus einer zypriotischen Griechin wird eine griechische Zypriotin. Nicht aufgrund ihres unermüdlichen Einsatzes erklimmt sie also die Karriereleiter, sondern mit Hilfe von Quoten.
Zwei Leitmotive
Im Laufe des Romans wird es immer klarer, dass die Schicksale der verschiedenen Protagonisten unausweichlich miteinander verknüpft sind - mehr sei hier noch nicht verraten. Zwei Motive halten die unterschiedlichen Erzählstränge zusammen. So ist ein Schwein, das in Brüssel herumirrt, gewissermassen der «Running Gag» des Romans. Kleine und grössere «Schweinereien» spielen aber auch in der EU-Politik eine Rolle. Da liegt es nahe, den Polit- und Beamtenalltag auch anhand der europäischen Schweinezucht darzustellen. Das ist unterhaltsam («Think Pig»), detailreich und enthält eben dennoch das Körnchen Wahrheit, das die Lektüre lohnenswert macht. Das zweite Leitmotiv des Romans ist der Holocaust, der doch am Anfang der europäischen Idee stand. Wie erinnert man im europäischen Kontext angemessen an Auschwitz, ohne das Thema zu instrumentalisieren oder in einen unpassenden Kontext zu setzen? Der Roman liefert keine Antworten, zeigt aber auf, wie man beim Thema Holocaust grandios scheitern kann.
Für Krimifans und Feinschmecker
Das mag nun alles etwas papiern und trocken wirken. Doch der Roman ist spannend zu lesen, sogar Krimifans kommen auf ihre Rechnung. Er hat zudem etwas für Feinschmecker und Liebhaber alkoholischer Getränke zu bieten. Martin, Fenia, Mateusz & Co trinken ständig Jupiler, Chablis, Gin Tonic und Champagner in unzähligen Brüsseler, Wiener oder Krakauer Bars; sie essen aromatisches Bigos, Choucroute à l'Ancienne, Waterzooi oder lauwarmes, vor Fett triefendes Giouvetsi. Und Martin wird in einem Feinkostgeschäft einmal sogar ein Tessiner Feigensenf zu Ziegenkäse aufgeschwätzt. Da kommt dann die Schweiz also doch noch vor, gewissermassen als unnötige Delikatesse. Auch noch in einem zweiten Satz wird an ihre Existenz erinnert: Ein Bericht der Neuen Zürcher Zeitung nimmt die Pharmaindustrie in Schutz. That's it. Auf der europäischen Bühne spielt die Schweiz scheinbar nicht einmal eine Nebenrolle.
Epilog
Draussen stürmte es und ich war wunderbar in meine Lektüre vertieft, als es plötzlich klirrte. Eine Fensterscheibe der Grächener Ferienwohnung hatte dem europäischen Sturm «Burglind» nicht standgehalten und war in tausend Stücke zerborsten.
Ob wir es nun wollen oder nicht, Europa wird auch uns Eidgenossinnen und Eidgenossen in den nächsten Jahren auf Trab halten, sei es nur schon mit einem halben Dutzend Initiativen und Referenden. «Die Hauptstadt» ist sicher die amüsanteste Einstimmung darauf für alle interessierten Stimmbürgerinnen und -bürger.
(Robert Menasse: «Die Hauptstadt». Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 459 Seiten)